Fantasy – Ist das nicht das Genre, in dem man alles erfinden kann? Doch um eine fiktive Welt schlüssig aufzubauen, braucht es Hintergrundwissen. Viel davon!
Ich liebe Recherche! Schon im Geschichtsstudium zauberte das Wort »Archiv« ein Lächeln auf mein Gesicht, während meine Freunde das nackte Grauen packte. Stundenlang bei Kunstlicht in muffigen Akten zu graben weckt in mir einen Jagdtrieb, der mich ganz in vergangene Zeiten eintauchen lässt.
In der Fantasy ist alles möglich – oder doch nicht?
Dass Recherche gerade in der Fantasy eine große Rolle spielt, mag überraschen. Ist das nicht das Genre, in dem man alles erfinden kann, in dem es keine Grenzen gibt?
Im Rat der Elben vereinen sich neun Gefährten, um einen tyrannischen Ring ins Feuer zu werfen. Drachen schwingen sich über gigantischen Heeren in die Lüfte. Und irgendwo überlebt ein Junge und stellt sich mit Zauberkraft gegen das Böse. Alles ist möglich. Je fantastischer, desto besser.
Doch gleichzeitig wird Fantasy-Autoren sehr genau auf die Finger geschaut. Grund dafür ist ein magisches Wort: Worldbuilding. Wie abgefahren das Setting auch ist, es muss in sich logisch sein. Das ist die Maxime des Worldbuilding. Um eine fantastische Welt schlüssig aufzubauen, braucht es Hintergrundwissen. Viel davon!
Ein Gespür für die Epoche bekommen: Recherche für »Das Tristmon-Projekt«
Unser Fantasy-Debüt »Das Tristmon-Projekt« spielt in einem fiktiven Setting, orientiert sich aber an einer historischen Epoche. Die beiden Kaiserreiche, um die es geht, lassen sich mit Monarchien in Europa um 1900 vergleichen. Vor und während dem Schreiben haben wir uns also informiert, was die gesellschaftlichen Gepflogenheiten zu Beginn des letzten Jahrhunderts waren. Recherchefragen waren unter anderem:
- In welchem Verhältnis standen Hausherren zu ihren Bediensteten?
- Wie unterschied sich die Stadt- von der ärmeren Landbevölkerung?
- Was war die Rolle der Frau?
Da die beiden Kaiserreiche einander bekämpfen, mussten wir außerdem wissen, wie Krieg all das beeinflusst.
Für solche großen Zusammenhänge eignen sich Monografien gut. Zum Beispiel Lexika wie die C.H.Beck-Reihe »Geschichte der Welt«. Dort werden große Begriffe wie »Imperialismus« gegen den Strich gebürstet und in ihren politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Dimensionen erklärt.
Wer es etwas sinnlicher will: Ein Gespür für die Zeit bekommt man über gut recherchierte Filme, Dokumentationen, Serien und zeitgenössische Musik. Doch je spezifischer das Thema, desto weniger genügen Überblickswerke.
Um herauszufinden, wie es unserer Hauptperson – dem Strafgefangenen Yan Pavel – in den Minen ergeht, durchforstete ich die Datenbanken der Universitätsbibliothek nach Fachartikeln. Die uns dann sehr genau erklärten, in welchen prekären Zuständen Minenarbeiter des 19. Jahrhunderts hausten und welchen tödlichen Gefahren sie täglich ausgesetzt waren.
Grundsätzlich muss man aber nicht sofort in die nächste Bibliothek stürzen, wenn man über einer Romanidee brütet. Unsere erste Anlaufstelle ist Wikipedia. Dort lässt sich bequem herausfinden, wie die militärischen Dienstgrade im deutschen Kaiserreich hießen oder welche Arten von Moos es gibt (beides relevante Fragen für unseren Roman). Tipp: Schau dir an, welche Quellen der Wiki-Artikel benutzt – und grab tiefer!
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Tolkiens Vorbilder
Recherche gehört zur Fantasy wie zu einem historischen Roman oder einem Krimi. Selbst der Großmeister der Fantasy hatte Vorbilder, als er sich daran machte, seine Mittelerde zu entwickeln: J.R.R. Tolkien, der fließend Gotisch, Griechisch und Altenglisch sprach und in Oxford Anglistik lehrte, entwarf die ausgefeilten Sprachsysteme von »Der Herr der Ringe« auf Basis mehrerer Sprachen. Die Elbensprache Quenya zum Beispiel beruht auf dem Finnischen. Charaktere und Plots erinnern nicht ohne Grund an die nordische und griechische Mythologie.
Wer Sprachen und Gesellschaftsformen erfindet, sollte wissen, wie diese Systeme grundsätzlich funktionieren. Wer fantastische Kreaturen zum Leben erweckt, muss sich Gedanken über deren Lebensraum machen.
Unsere reale Welt ist dabei die Blaupause: Die Dothraki in Georg R.R. Martins »Das Lied von Eis und Feuer« (HBO-Serie »Game of Thrones«) sind ein kriegerisches Wüstenvolk, das perfekt an seine Umgebung angepasst ist. Ähnlich wie die mongolischen Stämme zur Zeit von Dschingis Khan leben sie in nomadischen Großverbänden mit dem Pferd als Zentrum der Kultur.
Warum Fantasy-Welten nicht im luftleeren Raum hängen, sondern sich an Existierendes anlehnen, hat aber noch einen anderen Grund. Wenn wir Fantasy lesen, erwarten wir ausgefallene Welten, fremde Kulturen, Exotik. Zugleich brauchen wir Orientierung. Erst wenn wir uns die Welt anhand bereits Bekanntem vorstellen können, akzeptieren wir Neues.
Kleiner Recherche-Werkzeugkasten
Internet (Wikipedia, Online-Archive von Zeitungen, themenspezifische Seiten, Foren)
Bibliotheken und Datenbanken mit Fachartikeln
Archive
Museen und Ausstellungen
Bildersuche (Google, Foto-Archive)
Dokus und Spielfilme/Serien
Zeitgenössische Musik
Podcasts, Social Media-Accounts zu bestimmten Themen, Youtube-Kanäle
♥ Tipp: Institutionen direkt anfragen, falls es kein öffentlich zugängliches Material gibt. Die dortigen Mitarbeiter helfen meistens gerne weiter.
Leichter Konsum oder komplexe Welten?
Was und wie tief recherchiert werden muss, hängt einerseits vom Subgenre ab. Historical Fantasy bewegt sich in einem realen historischen Kontext und fordert einiges an Recherchearbeit, um glaubwürdig zu sein.
Susanna Clarkes Roman »Jonathan Strange & Mr. Norrell« ist im England des frühen 19. Jahrhunderts angesiedelt. Inmitten des viktorianischen Zeitalters lässt Clarke die Magie nach England zurückkehren. Wie umfassend ihre Kenntnisse der Epoche sind, zeigt sich nicht nur daran, dass sie die Figuren in ihrem gesellschaftlichen Korsett gekonnt gegeneinander ausspielt. Selbst die Erzählerin spricht so, wie man es aus zeitgenössischen Romanen kennt. Ein forderndes, aber sehr authentisches Leseerlebnis!
Auch in Elizabeth Kostovas Dracula-Roman »Der Historiker« sind Fantasy-Elemente so geschickt in ein sorgfältig erarbeitetes historisches Setting eingewoben, dass die Grenze zwischen Realität und Fiktion verschwimmt. Andere Subgenres wie Romantasy oder die in der Gegenwart angesiedelte Contemporary Fantasy kommen tendenziell mit weniger Bücherwälzen aus.
Entscheidender als das Subgenre ist aber die Frage, was die Leser von der Geschichte erwarten. Dient sie raschem, leichtem Konsum, muss die erzählte Welt zwar kohärent, aber nicht besonders ausgefeilt sein. Das wäre sogar hinderlich. Wenn ich wissen will, ob der Prinz die Prinzessin kriegt, interessiert mich der Aufbau einer mittelalterlichen Stadt kaum.
Möchte ich aber eintauchen in diese fantastische Welt, die Motive und Sehnsüchte der Geschöpfe nachvollziehen, mich sogar mit größeren Fragen beschäftigen, die in dieser Welt gespiegelt sind – dann erwarte ich ein vielschichtiges, liebevoll ausgearbeitetes Setting.
Lass dich inspirieren!
Fantasy-Autoren müssen eine komplette Welt konzipieren. Daher erstreckt sich die Recherche auf nahezu alle Gebiete: Geschichte, Geografie, Biologie, Technik, Linguistik, Anthropologie, Literatur und so weiter.
Und das ist ihr Reiz: Wann sonst erhält man die Möglichkeit, Wissen aus Büchern nachzulesen, die man nach der Schule freudig weggeworfen hat? Heute verstehe ich bedeutend besser, wie Motoren und Telefone funktionieren. Mein Physiklehrer wäre stolz auf mich.
Recherche ist aber auch ein sinnliches Erlebnis. Es ist schon fast Pflicht, einer Fantasy-Welt eine Karte beizufügen. Deshalb besuchte ich die Kartensammlung der Universitätsbibliothek, in der Karten diverser Orte von der Frühen Neuzeit bis heute lagern. Zwischen alten Globen und tischgroßen Atlanten stöberte ich in Landkarten des 19. Jahrhunderts, um die Karte von »Das Tristmon-Projekt« an die Referenzzeit 1900 anzunähern.
Die Archivarbeit ist die Kür der Recherche. In Archivdatenbanken Zeitdokumente aufzuspüren ist aufwändig und dürfte vielen zu weit gehen. Andererseits kommt man nirgends so nah an eine Epoche und ihre Menschen heran. Es ist inspirierend, ein Ereignis durch die Augen eines Zeitgenossen zu erleben. Oder auch nur dessen Alltag zu begleiten. Und wer weiß? Womöglich findet man beim Durchforsten einer Kiste mit vergilbten Briefen Ideen für weitere Geschichten?
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Klischees brechen, Geschichte(n) erleben
Sebastian und ich sind Fans von Büchern, die nicht romantisieren. Es hat nicht gut gerochen in der frühneuzeitlichen Stadt und auf dem Schlachtfeld ging es alles andere als heroisch zu. In der Fantastik scheint sich inzwischen der Trend durchzusetzen, dass vergangene Zeiten nicht mehr allzu sehr verklärt werden.
Um zu merken, wo wir als Autoren Klischees aufsitzen, braucht es Recherche. Gleichzeitig bringt es nichts, historische »Wahrheit« anzustreben, denn die gibt es nicht. Wir wissen schlicht nicht, wie das Mittelalter »wirklich« war, aber genau damit lässt sich spielen – gerade in der Fantasy. Alles, worauf es ankommt, ist Glaubhaftigkeit.
Glaubhaft ist eine fantastische Welt dann, wenn physikalische Grundprinzipien und Gegebenheiten der Referenzzeit eingehalten werden. Wie schnell kann eine Armee reisen, wenn sie Tonnen an Kriegsmaterial schleppt und über schlammige Straßen oder querfeldein marschiert? Wie rasch und über welche Kanäle konnte ein Abt vom tragischen Ableben des Königs erfahren?
Wir sind so sehr daran gewöhnt, dass wir jederzeit Informationen bekommen, in wenigen Stunden jenseits des Atlantiks sind. Da ist es manchmal gar nicht falsch, etwas nicht nur aus Büchern, sondern am eigenen Leib zu erfahren.
Da ich wissen wollte, wie es sich anfühlt, bei Wind und Wetter unterwegs zu sein, stiefelte ich im Sommer 2019 eine Woche lang durch die Berge. Ich legte über zwölftausend Höhenmeter zurück, wurde eingeschneit und begegnete keiner Menschenseele.
In der Geschichtswissenschaft werden »Living History«-Experimente oft belächelt. Für die Schriftstellerei kann ich sie absolut empfehlen! Ein Autor schreibt anders, wenn er weiß, wie viel eine Rüstung wiegt, wie stark der Hintern nach einem Tag im Sattel schmerzt und welche Geräusche ein Wald bei Nacht verursacht.
Die Welt dient der Geschichte
Die Gefahr ist groß, dass man sich in all der Recherche verliert und am Ende gar nicht mehr weiß, was man überhaupt schreiben wollte. Deshalb: Die Welt dient der Geschichte, nicht umgekehrt. Zu viel Information blockiert. Denn mal ehrlich, wer muss wissen, wie viel ein Cocktail im Paris der Zwanzigerjahre gekostet hat?
In Geschichten, die in einer fiktiven Welt spielen, darf man Kompromisse eingehen. Die Gefährtin unseres Protagonisten Yan ist beispielsweise viel moderner, als es historisch möglich gewesen wäre. Es ist nicht das Ziel, dem Leser Wissen um die Ohren zu hauen. Recherche ist das Flussbett – was Leser sehen, lediglich die Reflexion auf dem Wasser. Doch das ist genug, denn es geht nur darum, ein bestimmtes Gefühl zu erzeugen.
Das einzige Fantasy-Element in »Das Tristmon-Projekt« sind mysteriöse dämonische Wesen, die an die Grenze der Kaiserreiche herandrängen und alles auf ihrem Weg vernichten. Sie sind die übergeordnete Bedrohung, das zu lösende Rätsel.
Auch wenn es solche Kreaturen in unserer Realität gottlob nicht gibt, mussten wir uns beim Schreiben überlegen, wie sie aussehen könnten (Bildrecherche), nach welchen Regeln sie funktionieren (Metaphysik) und wie eine Gesellschaft ihre Existenz verarbeitet (Sagen, Legenden, Märchen). All das hat uns geholfen, eine klare Vorstellung dieser Geister zu entwickeln und unseren Lesern den nötigen Schauer über den Rücken laufen zu lassen.
In diesem Sinne: Nutze alles, was dich anspringt und dich deiner Welt emotional näherbringt – Bilder, Musik, Tagebücher, Briefe … Lass dich auf den Tanz durch Raum und Zeit ein und wecke den Detektiv in dir! (Um noch ein kitschiges Schlusswort zu platzieren.)